In den letzten Jahren rückte das Schlagwort Industrie 4.0 immer mehr ins Zentrum des öffentlichen Diskurses. Ebenso wie beim populären Begriff des Internets der Dinge wird meist voreilig davon ausgegangen, dass jeder das Gleiche darunter versteht – ein Trugschluss.

Was bedeutet die Diskussion um die Industrie 4.0 und welche Rolle spielt die Ergonomie in diesem noch hypothetischen Konstrukt? Fragen, die neben der gesellschaftlichen Dimension immer eine individuelle Bedeutung aufweisen.

Denn die Angst mittels fortschrittlicher Technologien wegrationalisiert zu werden, schwingt bei Arbeitnehmern oft mit. Mitunter nachvollziehbar artikuliert, manchmal auch übertrieben formuliert.

Der Mensch spielt in der zukünftigen Industrie nach wie vor eine wichtige Rolle, doch die Ausformung der Arbeit und die Aufgabenstellungen ändern sich.

Was bedeutet Industrie 4.0 eigentlich?

Zunächst ist es wichtig, zu verstehen, dass Fortschritt und Weiterentwicklung normal sind. Kompletter Stillstand wäre ein Grund zur Sorge, denn stagnierende Systeme neigen zu Anfälligkeiten und veralten in einer sich ständig ändernden Umgebung irgendwann zwangsläufig.

Merkmale der neuen Phase sind der flächendeckende Einzug von Informations- und Kommunikationstechnik sowie deren Vernetzung zu einem Internet der Dinge, Dienste und Daten. Firmen können dadurch schneller, kundenorientierter und besser reagieren. Stichworte: Echtzeitfähigkeit und die Evolution der Mensch-Maschine-Interaktionen.

Erstmals tauchte das populäre Schlagwort auf der Hannover Messe 2011 auf. Es wurde im Rahmen einer gleichnamigen Initiative der Bundesregierung im Zuge ihrer umfassenden Hightech-Strategie genutzt und etabliert.

Industrie 4.0 beschreibt einerseits den bereits stattfinden Wandel in der industriellen Fertigung und beinhaltet zudem klare Zielvorgaben: Eine konsequente, wirtschaftlich sinnvolle und möglichst humane Weiterentwicklung des jetzigen Staus Quo.

Angestrebt wird, möglichst viele Produktionsabläufe flexibel, wandelbar und autonom zu gestalten, damit diese in Zukunft auf dem globalen Markt bestehen können.

Die vierte Stufe der industriellen Revolution impliziert eine Wirtschaftswelt, in welcher Menschen, Maschinen, Objekte und Softwaresysteme mittels Intra- oder Internet verbunden sind. Sie können dadurch miteinander sowie untereinander kommunizieren.

Stufen der industriellen Revolution

Doch was kennzeichnet die Gegenwart eigentlich und wie kam es dazu? Ein kurzer Rückblick, welche Etappen der industriellen Revolution unterschieden werden:

  • Die erste Phase kennzeichnet die Innovation mittels Mechanisierung und somit durch technischen Fortschritt. Beispiel: Webstuhl oder Dampfmaschine – die Industrie wird unabhängiger von menschlicher Muskelkraft.
  • Massenfertigung als gesellschaftliches Phänomen definiert die zweite Etappe. Dank elektrischer Energie trägt die Massenproduktion zum Wohlstand für weite Teile der Bevölkerung bei.
  • Phase drei thematisiert die Integration von Computern in den Fertigungsprozess. Mittels Digitalisierung und Informationstechnologien übernahmen Maschinen in effektiver Weise Tätigkeiten, die zuvor per Hand erledigt wurden.

Man wäre angesichts dieser gängigen Unterteilung geneigt, die dritte Phase der gelisteten Etappen als immer noch gültig einzuordnen. Doch dem steht das oben genannte Thema der Mensch-Maschine-Interaktion gegenüber.

Die zunehmende Vernetzung von Individuum und Maschinen stellt einen bedeutsamen Sprung in der Fertigung dar, welcher einen neuen Abschnitt der industriellen Revolution nach sich zieht.

Die Smart Factory

Im Rahmen der aktuellen Diskussion taucht immer wieder der Begriff Smart Factory auf. Selbige gilt als Idealbild des digitalen Wandels, welcher den deutschen Mittelstand vorantreibt.

Das Tempo und die Schlagzahl in der Produktentwicklung steigen an, gleichzeitig werden viele Produkte individueller gestaltet. Die moderne Fertigung in einer Smart Factory ermöglicht das Eingehen auf besondere Kundenwünsche und Marktlagen.

Eine „intelligente Fabrik“ fabriziert individuell hergestellte Ware nach Kundenwunsch. Möglich wird dies durch computergesteuerte und per Internet verknüpfte Prozesse der Fertigung, welche Flexibilität und Effizienz auf ein neues Niveau hieven.

Das folgende Video des Bayrischen Rundfunks umreißt die Smart Factory im Rahmen des Industrie 4.0 Themas.

Merkmal 4.0: individualisierte Massenanfertigung

Es gilt zwei Prinzipien, die sich (früher) oftmals diametral gegenüberstehen, zu vereinen: Fließbandproduktion und individuelle Fertigung.

Und genau diese Verbindung des einstmals Gegensätzlichen wird aktuell unter dem Begriff Mass Custumization diskutiert. Übersetzt: individualisierte Massenfertigung.

Konkret bedeutet dies, dass teilautomatisierte Arbeitsplätze, die einen Nutzer benötigen, sich auf diesen einstellen lassen müssen.

Die Bedeutung der Ergonomie in der zukünftigen Industrie

An dieser Stelle werden ergonomische Ideen und Ansprüche relevant: Die Anpassung der Bedingungen an die Menschen soll die Mensch-Maschine-Interaktion optimieren. Im Idealfall orientiert sich der moderne Industrie-Arbeitsplatz in Hinblick auf Höhe, Griffwege, Ordnung, Verständlich- und Bedienbarkeit des Softwaresystems beziehungsweise des User-Interace am jeweiligen Menschen.

Die zukünftige Ergonomie am Arbeitsplatz muss also Antworten liefern, wie das Zusammenspiel sich positiv auf die Effizienz und die Bedürfnisse der tätigen Mitarbeiter auswirken kann. Optimistisch formuliert evoziert der Fortschritt in der Technik, dass die gesundheitlichen Ansprüche der Menschen in der Fertigung mehr als zuvor respektiert werden.

In der Industrie 4.0 spielt die Entlastung somit eine wichtige Rolle. Die ergonomische Forderung, monotone und einseitig belastende Tätigkeiten zu verringern, kann durch das Verlagern derartiger Arbeitsschritte auf Maschinen umgesetzt werden.

Im Gegenzug benötigen die Arbeiter eine andere und bessere Qualifikation, um die Maschinen und Computer steuern, kontrollieren und warten zu können.

Beispiel BMW: Entlastung der Werker durch Exoskelette

Bereits im Jahr 2017 strebt BMW den Einsatz von Exoskeletten – eine Art Roboter zum Überziehen – an. Und zwar sowohl für den Ober- als auch den Unterkörper. Die Hilfen werden bereits jetzt in der Serienfertigung im US-amerikanischen Werk in Spartanburg genutzt. Sie unterstützen die Fachkräfte bei Über-Kopf-Arbeiten.

Grundsätzlich fungieren Exoskelette als Assistenzsysteme im Rahmen der Serienfertigung. Ihr Anspruch: Die Arbeit ergonomischer gestalten und die Gesundheit der Arbeiter schonen. Denn natürlich existieren Bereiche, in denen das Heben schwerer Lasten nicht vermieden werden kann und eine physische Belastung darstellt.

Vorteile von Exoskeletten:

  • Erhöhte Stärke
  • Einsparung von Kräften
  • Unterstützung der Arbeiter
  • Exoskelette reduzieren die Körperbelastung von Werkern bei anstrengenden Tätigkeiten

Mensch und Industrie 4.0

Verständlicherweise existieren viele Ängste, denn eine Änderung der Arbeitswelt zieht in vielen Fällen Gewinner und Verlierer nach sich. Viele medial vermittelte Zukunftsszenarien (etwa in düsteren Science Fiction Romanen) verstärken diese Befürchtungen.

Die Art und Weise der Arbeit wird sich in Zukunft verändern, diese Annahme ist richtig. Doch lassen sich die Menschen durch intelligente Maschinen nicht ersetzen, vielmehr wird das Zusammenspiel – die Kooperation – komplexer und anspruchsvoller.

Im Mittelpunkt steht nach wie vor der arbeitende Mensch – selbst in einer durchgängig virtualisierten und informatisierten Fabrik. Qualifizierte Mitarbeiter werden immer dann benötigt, wenn sensorische Lücken auftauchen. Kontrolle, Weiterentwicklung und Wartung sind relevante Arbeitsbereiche, die immer bestehen werden.

In einem modernen und dynamischen Umfeld werden zudem Eigenschaften wie Kreativität und Flexibilität immer wichtiger. Genau diesen Ideenreichtum können nur Menschen einbringen. An dieser Stelle entfaltet sich ein neuartiger Freiheitsraum für Mitarbeiter, denn sie sind nicht mehr an immer gleiche und einseitige Tätigkeiten gebunden.

Zunehmende Bedeutung des User-Interface

Das User-Interface spielt eine Schlüsselrolle im vierten Industriezeitalter: Digitale Benutzeroberflächen stellen relevante Schnittstellen im Zuge der Kommunikation zwischen Menschen, Maschinen und Objekten dar.

Abbildung: einfache Bedienung des Displays

Struktur, Verständlichkeit und einfache Steuerung machen ein gutes User-Interface aus

Ihre ergonomische Gestaltung und generelle Verständlichkeit bestimmt den Erfolg und die Effizienz dieser Interaktionen maßgeblich mit. Sie bilden das Umfeld, in welchem Menschen und Maschinen miteinander professionell kommunizieren.

Zudem informieren die Schnittstellen den jeweiligen Nutzer über die Kommunikation von Maschinen und Objekten untereinander, sie ermöglichen eine gezielte Steuerung. In der kommenden Arbeitswelt sind digitale Benutzeroberflächen passgenau in den gesamten Wertschöpfungsprozess integriert.

Doch was kennzeichnet ein gutes User-Interface eigentlich? Folgende Merkmale werden immer wieder genannt:

  • Funktional
  • Ansprechend
  • Intuitiv

Know-how & Qualifikation

All diese Überlegungen zur Industrie 4.0 zeigen, wie sehr sich Anforderungen an die tätigen Menschen wandeln. Mitarbeiter in der Industrie sind stärker denn je angehalten, sich fortzubilden und dabei interdisziplinär zu denken.

Eine Aufgabe mit Anspruch, denn es gilt, sich in komplexe Prozesse einzuarbeiten, damit auf dieser Grundlage verantwortliche Entscheidungen gefällt werden können. Eine derartige Qualifikation und Umschulung der Arbeitskräfte bedeutet aber auch, dass ein passendes Ausbildungsumfeld geschaffen werden muss, damit der Wirtschaftsstandort Deutschland weiterhin führend und attraktiv bleibt.

Zu bedenken sind ebenfalls mentale Aspekte: Ein optionales Beratungsangebot in industriellen Betrieben, in denen Ängste und Probleme besprochen werden können, trägt sich dazu bei, dem Wandel sinnvoll auf mehreren Ebenen zu begegnen.

Die Rolle der Ergonomie in der modernen Fertigungsindustrie

Fazit: Besser oder schlechter? Nein – die Arbeit im Rahmen der Industrie 4.0 wird deutlich anders. Sie fordert Flexibilität ein, fördert gleichzeitig Effizienz und Freiheit. Dies lässt sich als Chance, Risiko und Anforderung zugleich beschreiben. Der neue Prozess ist verbunden mit einem zunächst anstrengenden Fortbildungs- und Qualifikationsanspruch, das ist der sogenannte „Buckel“, den es zu überwinden gilt. Er bietet aber auch neuartige Möglichkeiten: Beispielsweise lassen sich belastende monotone Tätigkeiten an Maschinen abgeben. Darüber hinausgehend ist es möglich, die Arbeitsstelle am jeweiligen Mitarbeiter zu orientieren. Genau dies stellt aus ergonomischer Sicht eine Chance dar.